Samstag, 17. November 2007

Die Parabel vom leeren Brunnen


Dass der Eimer aus dem endlich vollendeten Brunnen stets leer herauf gezogen wurde, ließ sie die Leere ihrer Herzen noch deutlicher spüren, welche die schwere Arbeit dort hinterlassen hatte. Geduld war es gewesen, welche die Schaufeln tiefer und tiefer in die Erde hatte vorstoßen lassen. Geduld schien es auch zu sein, die nun von ihnen gefordert war. Dass aber der Eimer auch an den folgenden Tagen nur leer heraufgezogen wurde, ließ sie an dieser Hoffnung zweifeln.

Sie waren erschöpft. Jeder Stich der Schaufeln, den sie getan, und jede Bütte mit Aushub, die sie vom Brunnen fort getragen hatten, schien erneut an ihren Armen zu ziehen und in ihr Kreuz zu drücken. Ihre Gedanken und ihre Träume hatten nicht zu graben aufgehört, obschon der Schacht bis auf den undurchdringlichen Fels unter der Talsohle getrieben worden war. Ihre Schultern erinnerten sich an den notwendigen Schwung, mit dem sie die Schaufel in die Erde gestoßen hatten, und ihre Füße an die Tritte, mit denen sie tiefer hinein getrieben worden war. Ihre Arme erinnerten sich an das Rütteln, mit dem sie ihr Werkzeug zwischen die Gesteinsbrocken geschoben, und an das Hebeln, mit dem sie die volle Schaufel herausgestemmt hatten. Noch jetzt schienen die Seile, mit denen sie die mit Erde und Steinen gefüllten Bütten aus dem Brunnen gezerrt hatten, in ihre Hände und die Riemen, an denen sie diese getragen hatten, in ihre Schultern zu schneiden. Dass der Eimer weiterhin stets leer heraufgezogen wurde, ließ die Anstrengung fortdauern, als wäre nie ein Erfolg erzielt worden.

Mit jedem Gang talauswärts zu den alten Dörfern, wo sie Wasser holen konnten, erinnerten sich die ermüdeten Beine an jede Sprosse, welche sie hinab in den Brunnen und herauf gestiegen waren, um ihn tiefer auszuschachten. Die so viel leichteren Schritte durch das Tal waren jetzt schwerer zu bewältigen, als sie es jemals in der Vergangenheit gewesen waren. Jeder Schritt war so schwer wie eine Bütte voll Erde. Und all das Wasser, das sie auf diese Weise herbei trugen, glättete nicht mehr ihre trockenen Herzen und kleidete nicht ihre entblößten Gedanken. Kein Wasser, das ihr Brunnen ihnen spenden würde, schien jemals diesen Durst stillen zu können. Während sie um das trockene Loch im Boden standen, welches sie mit ihrer Arbeit geschaffen hatten, und immer wieder den Eimer hinunter ließen, wogen Schaufel und Bütte noch immer schwer in ihren Gedanken.

Noch als das Ziehen, welches die Schaufel in ihre Armen gelegt, das Gewicht, welches die Tiefe des Schachtes an ihre Beine gehängt, und der Druck, welchen die Bütte auf ihren Rücken gebaut hatte, nachgelassen hatte und langsam verschwunden war, füllten sie ihre Becher mit dem Wasser, das sie aus den alten Dörfern herbei getragen hatten. Aber auch jetzt noch waren ihre Gedanken und ihre Träume von demselben ziehenden Gewicht bedrückt. Dass der Eimer immer fort leer heraufgezogen wurde, schien es unmöglich zu machen, die Erinnerung an die Anstrengung jemals abzulegen. Mit jedem Gang in die alten Dörfer, wo sie Wasser holten, wurde die Erinnerung durch die Schwere der Last und das Ausmaß der Mühen wieder herauf beschworen. Und das Wasser aus den alten Dörfern rieselte selbst wie Staub durch ihre Kehlen und sickerte in ihre trockenen Herzen. Würde es jemals möglich sein, nicht nur Wasser zu verwenden, sondern auch selbst Wasser zu schöpfen? Würden sie die Geduld schließlich beiseite legen und erneut zur Schaufel greifen müssen?

Am Ende der Hoffnung füllten sie das Wasser aus den alten Dörfern nicht in ihre Becher. Der Eimer fiel von ihren müden Fingern und rollte ins trockene Gras. Nun würden sie dürsten. Und sie dürsteten drei Tage und drei Nächte und rührten weder ihre Schaufeln noch den Brunnen an, noch gingen sie, um Wasser zu holen. Am Morgen des vierten Tages aber konnten sie das Grundwasser schon riechen, welches sich über Nacht in den Brunnenschacht gehoben hatte, und welches dafür sorgen würde, dass der Eimer aus dem Brunnen nun stets voll herauf gezogen wurde. Sie schöpften ihr eigenes Wasser. Und es stillte ihren Durst besser als jedes andere, das sie jemals getrunken hatten.

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