Montag, 22. April 2013

Der Aufbruch


           
Für Mama, 30.04.1943–22.04.2008


Das Zeichen zum Aufbruch kam mit einer halben Stunde Vorwarnung. Dementsprechend hektisch wurde es leider auch. Natürlich traf es uns nicht unvorbereitet, im Gegenteil, aber man kennt das ja: Es gibt eine bestimmte Anzahl von Dingen, die man erst im letzten Moment erledigen kann. Die Zahnbürste einpacken zum Beispiel, die man bis zuletzt noch in Gebrauch hat, den Reiseproviant, der frisch sein muss, und die Reiseapotheke, die man vielleicht gar nicht mehr brauchen wird. Wäre nicht alles so gut geplant gewesen, hätten wir es nicht rechtzeitig geschafft. Ja, lange hatten wir darauf gewartet, Karten für den Zug zu bekommen. Aber auch wenn man so lange darauf gewartet hat, ist es nachher immer ein bisschen anders. Jedenfalls waren die Aufgaben klar verteilt: Ich trug die Koffer zum Wagen, während Papa sich um die Kosmetik und die Medikamente kümmerte, wobei Mama ihn beaufsichtigte. Sie war zu angeschlagen, um selbst etwas tun zu können. Deshalb – und natürlich auch, weil sie das besonders gut konnte – fiel ihr die Aufgabe der Organisation zu. Man könnte sagen, dass wir ohne sie den Aufbruch auch gar nicht geschafft hätten. Ja, und Katrin machte das Vesper fertig: belegte Brote für vier und heißen Tee in Flaschen.

Ihre Hände flogen schnell auf dem Tisch hin und her, verteilten Wurst- und Käsescheiben, legten Brotscheiben aufeinander und verpackten. Sie war bleich und still, gänzlich konzentriert. Ich jedoch lief eilends von einem zum anderen und immer wieder hinaus, rief den anderen Fragen zu und hörte die Antwort meist nicht mehr, weil ich bereits weitergelaufen war. In diesen Fällen musste ich erneut fragen, wenn ich wieder vorbei kam. Papa dagegen trug einzeln die Fläschchen und Tiegel zusammen, um welche Mama ihn bat, stellte sie dann aber, nachdem er sie erst einmal geholt hatte, versehentlich wieder zurück oder auf den Nachttisch, anstatt sie in die Tasche zu tun. Schließlich musste Mama ihn bitten, alles noch einmal auszupacken, um sicher zu gehen, dass nichts vergessen wurde. Die Anstrengung brachte sie dabei vollkommen außer Atem, noch bevor wir überhaupt das Haus verlassen konnten. Papa wischte sich den besorgten Blick vom Gesicht und sagte immer fort im Wechsel „Wir machen das alles so, wie Du willst“, und „jetzt müssen wir aber langsam fertig werden.“ Schließlich, als tatsächlich alles fertig war, stellte sich Katrin neben Mama und streichelte ihr sanft und Mut zusprechend den Rücken, während Papa und ich unsere Rucksäcke aufsetzten. Wir waren bereit.

Immerhin konnten wir die Strecke zum Bahnhof sitzend auf dem Wagen verbringen und mussten nicht zu Fuß gehen. Wir hatten es geschafft, alles Notwendige mitzunehmen, obwohl wir natürlich einiges Altgeliebte, bislang Lebensnotwendige hatten zurücklassen müssen – vor allem natürlich Gewohnheiten und tägliche Rituale, die nun nicht mehr möglich sein würden. Die Dinge, die wir zurückließen, würden wir wohl nicht mehr ersetzten können, jedoch waren wir uns gewahr, dass wir, dort wo wir hingingen, Neues fänden und sicherlich auch ganz Anderes bräuchten. Unser gesamtes Leben würde sich ändern.


Die eigentlichen Schwierigkeiten fingen am Bahnhof an. Hier waren nicht nur wir in Eile und ein wenig hektisch. Hier war viel Geschäftigkeit, teils routiniert, teils solche von einer Hoffnung und Unsicherheit getriebene, wie die unsere. Die Geschäftigkeit war zugleich beruhigend und zermürbend, weil die Zeit für die Verladung all der Dinge, die für unsere Rettung unerlässlich waren, so gering war. Aber es gab keinen anderen Weg, keine Möglichkeit, um die Arbeit zu vereinfachen oder zu verkürzen und Nichts, auf das verzichtet werden konnte. Es war eine schwierige Operation.

Das Verladen selbst war auch gar nicht das Problem, denn die gute Vorbereitung und die handlichen Gepäckstücke machten schnelles Arbeiten leicht. Zunächst mussten sie aus unserem Wagen herausgenommen, dann mit Hilfe kleinerer Gepäckkarren zum Zug gebracht und schließlich ebenso sorgfältig verstaut werden. Das Problem war, dass Mama kaum mehr zu Luft kam. Von Anfang an war klar gewesen, dass sie keine Hilfe mit dem Gepäck würde leisten können. Nun aber ging es ihr, als sie vom Wagen stieg, schon so schlecht, dass Papa sie stützen musste. Einen Arm legte er ihr um die Schulter, mit dem anderen stützte er sie. So jedoch konnte er nun allerdings auch kein Gepäck mehr bei sich tragen. Katrin und ich versuchten, diese Komplikation dadurch wettzumachen, dass wir die einzelnen Stücke schneller vom Wagen auf die Karren umluden und vielleicht auch mehr darauf häuften, als unter anderen Umständen gut zu heißen gewesen wäre. Unter den gegebenen Bedingungen dagegen war dies unerlässlich. Als wir das erste Mal vom Zug zum Wagen zurückgelaufen kamen, war Papa mit Mama schon ein gutes Stück weitergekommen. Das erleichterte uns natürlich, denn wir hatten Schlimmeres befürchtet. Auf dem zweiten Weg zurück jedoch kamen sie uns dann erst viel später entgegen, als wir erwartet hatten. Und beim dritten Mal, das wir zum Wagen zurück liefen, um das letzte Gepäck zu entladen, waren sie kaum mehr weitergekommen. Die Zeit wurde knapp. Katrin entschied, dass sie Mama auf der anderen Seite stützen wollte, während ich – der Stärkere von uns beiden – die beiden Karren alleine zum Zug schieben sollte. Mit meinen Schritten zögerte ich nicht, wenn ich Mama jetzt auch nicht aus den Augen lassen wollte, denn ich wusste, dass es auf jede Minute ankam.

In der Tat waren wir die Letzten auf dem Bahnsteig, als ich das letzte Stück unseres unentbehrlichen Gepäcks verstaut hatte. Mama jedoch war immer noch so weit von der Tür des Zuges entfernt. Schon als ich zu ihnen zurückrannte, sah ich den Schaffner auf die Uhr deuten. Ich rief Katrin zu, dass sie vorauslaufen und die Tür offen halten sollte. Papa und ich zogen Mama schon mehr, als sie zu führen. Ihre Angst hörte man nun nicht mehr nur in ihren hektischen Atemzügen, sondern sah sie auch in ihren Augen: Die Angst, nicht genug Luft zu bekommen, um auch nur den nächsten Schritt gehen zu können, und die Angst, es nicht auf den Zug zu schaffen.

Noch vielleicht zehn Schritte zu gehen. Alle anderen Türen hatte der Schaffner schon geschlossen. Nur die eine wurde von Katrin noch offen gehalten. Aber Mama schüttelte den Kopf, zum Zeichen, dass sie nicht weiter konnte. Die Kraft war aus. Sie konnte einfach nicht mehr. Selbst Papa gelange es nicht mehr, die quälende Sorge aus seinem Gesicht zu vertreiben. Es war Zeit für äußerste Mittel. Ohne zu zögern, beugte ich mich hinunter und ließ Mama, meinen linken Arm um ihren Rücken gelegt, auf meinen rechten sitzen und hob sie so hoch. Schnell ging ich die wenigen verbliebenen Schritte und stellte sie, vom Papa unterstützt auf der Plattform des Zuges wieder auf die Beine, wo Katrin sie in Empfang nahm. Da ertönte auch schon die Pfeife des Schaffners und Papa und ich sprangen auf den schwerfällig anrollenden Zug.


Ich war mir nicht sicher, ob ich mehr aus Angst oder aus Anstrengung nass geschwitzt war. Besorgt und liebevoll blickte ich Mama an. Ihr Atem ging krampfhaft. Uns war klar, dass das sehr viel für sie gewesen war, insbesondere in ihrem Zustand. Nach einem Moment der Ruhe führte ich sie weg von der Plattform ins Abteil. Dort legten wir sie auf eines der Betten, damit sie sich erholen konnte. Schließlich richteten wir ihr alles so bequem wie möglich ein. All unser Handeln drehte sich um sie und ihr Wohlergehen: Polster, Decke, die Stirn abtupfen …

Und dann plötzlich war sie nicht mehr da. Von einem Moment auf den anderen. Es ist schwer zu erklären: Plötzlich war sie nicht mehr da. Einfach so. Sie konnte nirgends hingegangen sein. Nicht nur, dass sie es nicht geschafft hätte: Die einzige Tür des Abteils führte zurück auf die Plattform. Mit unseren Blicken suchten wir sie zwischen uns, so als könnte sie sich hier versteckt haben. Auch auf der Plattform war sie nicht. Wir liefen, rannten die wenigen Schritte bis ans Ende des Wagens, um auf den Bahnsteig zurück zu blicken, an welchem der Zug langsam entlang rollte. Aber auch dort war sie nicht. Sie war einfach weg. Sie war nirgendwo. Einfach weg. Noch weniger als eine Erkenntnis oder ein Begreifen schlich es sich in unseren Blick. Wir sahen es in unseren Augen: Sie war weg. Unser Zug hatte den Bahnhof jetzt verlassen. Im Abteil waren nur wir drei. Aber da war nichts, das wir tun konnten.

„Und ich habe mich nicht einmal von ihr verabschiedet,“ sagte Katrin. Was für ein seltsamer Gedanke. Dabei hätte Mama doch mit uns kommen sollen.

Freitag, 21. März 2008

Ein Kapitel im Evangelium nach Judas Iskariot


„Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.“

(Joh. 13, 26)


Als er sah, daß der Bissen ihm gereicht wurde, erschrak Judas. Wie konnte es sein, daß Jesus gerade ihn auserwählte? Gut, er war ein treuer Jünger gewesen. Und er gehörte zu den zwölf engen Vertrauten des Meisters. Aber da waren doch auch noch andere: Petrus beispielsweise. Sicherlich hatte der Meister das jetzt nicht so gemeint. Sicherlich hatte er, Judas, das falsch verstanden. Es war natürlich schon immer klar gewesen, daß einem der zwölf Jünger diese Aufgabe zukäme, aber Judas hätte sich niemals zu träumen gewagt, daß er es sein könnte. Forschend blickte er über die Hand mit dem Brot hinweg in jene Augen, die ihn gerade ansahen. Nichts konnte er dort lesen, das die Ernsthaftigkeit der Aufforderung in Frage stellte. Es schien gewiß: Er war der Auserwählte. Ihm kam die Ehre zu, den entscheidenden, ersten Schritt zu tun. Jetzt war es also offensichtlich. Er war nicht mehr einer der Unwichtigen in der Gruppe. Er, Judas, würde Jesus vor die Hohepriester bringen.


Judas spürte, wie sich seine Brust mit Stolz zu wölben drohte, doch das konnte er gerade noch verhindern. Vielmehr verstand Judas immer noch nicht, wie der Meister diesen Plan vollführen wollte: den Tempel einreißen und durch einen neuen ersetzen. Damit meinte er wohl den religiösen Umsturz. Im Grunde genommen hatte Jesus auch nie etwas Genaueres darüber erzählt. Gut, eines wußte Judas: Jesus sollte an die Hohenpriestern ausgeliefert werden. Das war nun seine Aufgabe. Aber auch das verstand er nicht so ganz. War sich Jesus da wirklich sicher? Dann wäre er schließlich auf sich alleine gestellt. Und die Hohepriester schienen es doch auf das Leben ihres Meisters abgesehen zu haben. War nicht genau das der Grund gewesen, warum sie sich in Ephraim versteckt hatten? Nein, Jesus durfte dabei nichts zustoßen: Er sollte als Gefangener in das Haus der Hohenpriester geführt werden und als König daraus hervorgehen. Und so war es ein großes Glück, die Aufgabe übernehmen zu dürfen; den initialen Schritt in diesem Plan auszuführen. Judas trug da eine große Verantwortung. Und er wollte sie mit Würde tragen. Aber wie sollte Jesus das anstellen, wenn er alleine dort bei den Hohenpriestern war? Wie wollte er die Lage im Griff behalten? Wenn das schief ginge, hätten sie nichts in der Hand, um Jesus zu helfen. Und Judas wäre es gewesen, der ihn dorthin gebracht hatte. Diese Verantwortung war auch zweischneidig. Jesus durfte nichts zustoßen. Das Ganze mußte einfach gut gehen. Trotzdem war das kein sicheres Unterfangen. Und sich dann hinstellen und wirklich den ersten Schritt tun – den ersten, der nicht rückgängig gemacht werden konnte …? Wenn das nur gut ginge.

Naja, Jesus hatte ihnen immer gesagt, was sie tun sollten, natürlich hatte er auch in diesem Fall Recht. So viel konnte wohl gar nicht schief gehen. Oder was konnten sie mit Jesus schon machen? Die Hohenpriester würden den Meister zwar gerne tot sehen, aber sie durften schließlich niemanden hinrichten. Und wenn sie doch einen Weg fänden – mit den Römern? Wenn ihm nun doch etwas zustoßen würde? Was sollte werden? Wie könnten sie das Werk vollenden und die gute Nachricht weiter verbreiten, wenn der Meister nicht mehr bei ihnen wäre? Was war denn, wenn er sterben würde? Das durfte nicht sein. So etwas durfte nicht geschehen. Jesus würde es schaffen. Etwas anderes könnte sich Judas auch niemals verzeihen. Nein! Und nein! Jesus könnte nichts zustoßen. Gott selbst würde über ihn wachen.

Ja, er wird es tun! Die Sicherheit im Blick Jesu gab dem Jünger Mut. Er wird die Tore aufstoßen; er wird es sein, der den Weg ebnet, damit der Plan erfüllt wird. Und er wußte, daß alle voll seligem Dank auf ihn blicken werden. Er wird Jesus an die Hohenpriester ausliefern. Und dieser wird die alten Tempel einreißen und ein neues Reich errichten. Sie alle werden des Heils teilhaftig werden. Ja, und er, Judas, und der Herr werden voranschreiten mit allen Jüngern im Gefolge. Bald wird das himmlische Reich ihnen offen stehen. Oh Gott, in wenigen Tagen – in wenigen Tagen wird Jesus sie zurück ins Paradies führen.

Judas Herz hämmerte, und Tränen trübten schon seinen Blick. Dann griff er nach dem Bissen.

Sonntag, 3. Februar 2008

Schlammgedanken


Die Müdigkeit überlagerte alles. Nicht, dass sie alles unmöglich machte. Aber durch sie wurde der Weg schlammig. Schlammig, so dass man bei jedem Schritt den Fuß oder den Gedanken erst mit Kraft vom Boden losreißen musst, nur damit er beim nächsten Schritt wieder feststeckte. Und dabei blieb bei jedem Schritt ein größerer Batzen Erde an den Stiefeln hängen. Und wenn man alle paar Schritt inne halten, sich bücken und mit den Händen die Stiefel festhalten musste, damit sie nicht stecken blieben, verlor man das Ziel aus den A… Ein Gähnen überkam ihn. Es war einfach so verdammt anstrengend, die Augen offen zu halten. Was hatte er gerade gewollt? Ach so, Stiefel. Na ja, das war auch unwichtig. Er gähnte noch einmal. Hörte das denn gar nicht auf? Seine Augen schwammen in Wasser und brannten. Bestimmt waren sie schon ganz rot vom Abwischen der Tränen.

So, jetzt musste er langsam mal in die Pötte kommen. Er starrte auf das Blatt. Den ersten Satz las er jetzt zum was-weiß-ich-nicht-wievielten Mal. Aber das nächste Gähnen schob sich zwischen ihn und den Sinn als wäre der Text in Suaheli verfasst. Wenn er doch nur irgendetwas in seinen Kopf bekommen würde. Aber diese Müdigkeit quälte ihn den ganzen Tag, dass er nicht mehr wusste, ob er nicht weiter kam, weil er keine Zeit für eine Pause hatte, oder weil der Kopf schon voll war. Noch einmal las er den Satz. Vier Stunden hatte er geschlafen heute Nacht. Gestern waren es fünf gewesen. Es war immer das Gleiche: Wenn er einmal aufwachte, vielleicht weil er aufs Klo musste oder aus einem anderen Grund, begannen die Gedanken, zu rasen, und die Panik ergriff ihn. Wenn er es nicht mehr aushielt, stand er auf und setzte sich wieder an den Schreibtisch, an dem er dann – unter anhaltender Panik – gegen das Einschlafen ankämpfte. Natürlich hatte er auch schon versucht, sich wieder in Bett zu legen. Aber eingeschlafen war er nicht mehr. Es war, als wollte ihn die Panik dann erst recht ergreifen.

Vielleicht wäre es besser, einfach weniger zu machen. So jedenfalls lernte er nichts, obwohl er dauern davor saß. Da könnte er ebenso gut spazieren gehen oder fernsehen. Jetzt probierte er es mal mit dem zweiten Satz. Nein, das hatte keinen Sinn. Es ist ja nicht nur, dass das rotzelangweilig war. Der Autor gefiel sich auch noch darin, alles so deliziös hochgestochen und – ich weiß ja nicht, vielleicht könnte man noch einen Nebensatz einschieben – beschissen auszudrücken. Volle Punktzahl in dummem Gelabere. Er stand auf. Wenigstens hatte das Gähnen aufgehört. Die Müdigkeit allerdings blieb. Die steckte in jedem Knochen. Er streckte sich. Einfach noch mal einen Kaffee kochen. Vielleicht brachte der Text ja auch gar nichts. Dann würde er sich hier ganz umsonst herumquälen, ohne dabei auch nur einen Schritt weiter zu kommen. Gerade so, als würde er doch im Schlamm feststecken.

Junge, man wurde schon ganz schön blöde von so viel Bildung. Und bei dem Kaffee wurde ihm bereits vom Geruch schlecht. Er trank definitiv zu viel davon. Aber ohne ging es nicht. Wobei man zugeben musste, dass es mit eigentlich auch nicht ging, und der Kaffee nur zu Herzrasen führte und dem anhaltenden Gefühl, als wäre seine Pumpe mit Stahlreifen eingebunden. Jeder Herzschlag gegen eine Wand aus Müdigkeit, die durch nichts und wieder nichts zu überwinden war.

Hatte er eigentlich schon irgendetwas gelernt? Was war es noch gewesen, das er gestern gelesen hatte? Nein, er konnte sich nicht erinnern. Vielleicht wenn er versuchte, sein Wissen in ein paar Sätzen zusammen zu fassen, so als ob er eine Frage gestellt bekäme. Was ist die … Aber eigentlich brachte er es noch nicht einmal fertig, zu umreißen, worum es bei dem ganzen Thema ging. Und jetzt fing das Gegähnte schon wieder an. Und der Kaffee bereitete ihm auch Bauchschmerzen. Er schüttete die Tasse aus. Die ganzen letzten Tage hatte er nie weniger als siebzehn oder achtzehn Stunden vor den Büchern gesessen und gelesen. Dennoch sah es nicht so aus, als ob er die ganzen Texte rechtzeitig durchgekommen würde. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch. Erster Satz. Erster Satz. Erster Satz. Natürlich könnte er ihn jetzt einfach so lange noch mal und noch mal lesen, bis er kapierte, was der Autor ihm sagen wollte. Auf die Weise würde er nie alle Texte durchbekommen. Und der Witz dabei war ja auch noch, dass er theoretisch alles, was er da gelesen hatte, anschließend bis ins Detail im Kopf haben sollte, um danach gefragt werden zu können. Völliger Quatsch. Wenn das so weiter ging, konnte er den Prüfer allenfalls angäh… Jetzt reicht es. Jetzt ist es einfach vorbei. Er nahm den ganzen Stapel Kopien und pfefferte ihn in den Papierkorb. Auf Niemehrwiedersehen!

Na ja, so einfach würde es nicht werden. Zu allem Übel war das ja auch noch der eine Text, den sein Prüfer selbst geschrieben hatte. Warum eigentlich musste gerade der so sinnlos unverständlich sein? Natürlich war es möglich, für jeden Sachverhalt eine irrsinnig komplizierte Formulierung zu finden. Aber warum? Die reine Verbalmasturbation, das war es! Er sah es schon kommen: Die Prüfungsfragen sind wahrscheinlich auch im Orakelduktus verklausuliert. Blah blah blah!

Ächzend beugte er sich vor und zog den Artikel wieder aus dem Papierkorb. Mit bleiernen Fingern schob er den Stapel auf seinem Arbeitsplatz gerade. Der neue Wahlspruch lautet: So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Und darum geht der faule Student jetzt wieder ins Bett und holt sich den nötigen Schlaf, damit es wieder möglich ist, ein wenig Stoff in den Kopf zu bekommen.

Als wüsste er nicht, dass auch das nichts brachte: Er steckte einfach fest.

Dienstag, 27. November 2007

Die alte Tapete


Hugo rieb sich noch einmal die schmerzenden Knie und stemmte sich dann doch aus dem Lehnstuhl hoch. Er streckte den Rücken, jedenfalls so weit das noch ging. Einen Buckel zu bekommen, hatte er immer befürchtet, auch darum hatte er so viel Wert darauf gelegt, sich gerade zu halten. Das war ihm auch gelungen. Man durfte sich eben nicht gehen lassen. Bis der verrutschte Pantoffel richtig saß, schlurfte er ein wenig, aber dann drückte er das Kreuz nochmals durch und ging zu dem kleinen, runden Teetischchen hinüber, um sich eine Tasse einzugießen.

Früher wäre er geschritten, aber so viel Bestimmtheit ließen seine Knie nicht mehr zu. Einen Finger der Linken legte er auf den Deckel der Kanne, welcher zu klappern begonnen hatte. Nachdem er die Kanne sachte zurück auf das Stövchen gestellt hatte, goss er einen Spritzer Milch in den Tee, rührte, streifte einen Tropfen vom Löffel und nahm sich schließlich einen Keks von der Etagere.

Er seufzte und nippte an der Tasse. Dabei blickte er nach rechts durchs Fenster auf das weite Tal. Die Sonne stand schon nicht mehr so hoch. Noch vor einer halben Stunde waren seine fünf Enkel um seinen Sessel getobt. Ach ja: Und er hatte ihnen vorgelesen. Wie er sich mit gespitzten Lippen das Schmunzeln verkniffen hatte, als er von sechsbeinigen, gelben Elefanten erzählte hatte, mit denen man in Afrika Jagd auf noch viel Größeres machte. Er liebte es, die Kinder um sich zu haben. Er liebte ihr Kichern und ihr Staunen und die Ernsthaftigkeit, mit welcher sie von ihren Spielen erzählten. Wenn es nach ihm ging, konnten gar nicht genug Kinder um ihn sein. Manchmal brachten seine Enkel auch Spielkameraden mit, die sich verwundert in seinem Haus umsahen. Es war schön mit ihnen. Freilich, manchmal waren sie ihm etwas zu schnell beim Toben oder etwas zu laut. Aber er ließ sich das nicht anmerken. Kinder müssen auch laut sein dürfen.

Sich vom Fenster abwendend trat er auf die Wand zu. Den Henkel der Tasse hielt er dabei vorsichtig mit der Rechten fest, damit sie nicht auf der Untertasse klapperte. Ruhig glitten seine Augen zu dem Portrait hoch. Seine Frau und er hatten ein schönes Leben gehabt. Natürlich war es nicht immer leicht gewesen. Aber in guten wie in schlechten Tagen hatten sie gewusst, dass sie sich hatten – auch wenn sie manchmal getrennt gewesen waren, wegen der Reisen und des Krieges. Er dachte nicht gerne an den Krieg. Besser war es, sich an die guten Dinge zu erinnern. Oder einfach, nach vorne zu schauen. Es war auch weniger Wehmut als Zuneigung, mit welcher er das Portrait seiner Frau ansah. Sie war schon so lange tot, dass er das Gefühl hatte, ihr gemaltes Gesicht besser zu kennen, als das echte, das so unklar geworden war in seiner Erinnerung. Die sanfte Stirn, die weißen Tupfer, die ihren Augen den Glanz verliehen, der Schönheitsfleck, den sie sich immer auf die Wange gesetzt hatte: Er streichelte sie mit seinen Augen, seit er es nicht mehr mit den Händen tun konnte. Ein wenig musste er schmunzeln. Dann nippte er nochmals an seinem Tee und stellte die Tasse auf dem Vertiko ab.

Sein Blick wanderte von der Leinwand über den vergoldeten Stuck des Rahmens auf die Tapete und schweifte über das Muster bis zum Rand der Nische. Der Seidendamast spannte sich über die Kante. Nichts hatte er von seinem Glanz verloren, auch wenn er an der Kante selbst ein wenig abgerieben war. Straff und gleichmäßig lag die Tapete auf der Wand. Nur neben der Türe war sie am Lichtschalter eingerissen: eine Abnutzungserscheinung. Man konnte die einzelnen Fäden sehen, wenn man genau hinsah. Hugo nestelte seine Brille aus der Hemdtasche und setzte sie auf. Ja, hier waren sie deutlich zu sehen, die zarten Fäden des Schussatlases. Sein Zeigefinger berührte den Stoff, der glatt und glänzend war. Er fühle sich ganz anders an, als der viel rauere und matte, aus welchem die Ranken und Blüten geformt waren. Wie froh sie damals gewesen waren, sich eine so schöne Tapete leisten zu können. Seine Augen folgten dem Muster. Die glatten Stellen machten einen viel kleineren Teil aus und hingen auch nicht zusammen, während sich die matten Ranken über die ganze Wand hin fortsetzten. Mit seinem Finger folgte er dem glänzenden Hintergrund um eine Blüte herum. Und noch einmal. Dann ging er langsam die drei Schritte zur Tür und besah sich die Tapete um den Lichtschalter. Schade um den schönen Stoff. Das würde sich nicht reparieren lassen. Vielleicht könnte man es notdürftig richten, wenn man den Bereich um den Lichtschalter mit etwas Unempfindlichem abdeckte. Er hatte so etwas schon einmal gesehen. Sonst wies die Seide noch nicht den typischen Altersschaden auf, dass die Sonne den Stoff fraß bis nur noch die blanken Ketten stehen blieben. Dieser Zustand würde sich nicht immer aufrechterhalten lassen. Auch jetzt lag das Licht darauf. Rotgolden von der untergehenden Sonne überdeckte es das Grün des Damastes.

Er nahm die Brille von der Nase und trat auf das Fenster zu. Die Sonne berührte fast die Hügel. Im Tal legte sich ein blasser Schleier über die Auen. Er ging dort gerne spazieren, dem Fluss folgend. Ja, er liebte es, mit seinen Kindern und seinen Enkeln dort spazieren zu gehen. Auch das würde sich nicht immer aufrechterhalten lassen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete er die Flügeltür und trat in den Garten hinaus.

Samstag, 17. November 2007

Die Parabel vom leeren Brunnen


Dass der Eimer aus dem endlich vollendeten Brunnen stets leer herauf gezogen wurde, ließ sie die Leere ihrer Herzen noch deutlicher spüren, welche die schwere Arbeit dort hinterlassen hatte. Geduld war es gewesen, welche die Schaufeln tiefer und tiefer in die Erde hatte vorstoßen lassen. Geduld schien es auch zu sein, die nun von ihnen gefordert war. Dass aber der Eimer auch an den folgenden Tagen nur leer heraufgezogen wurde, ließ sie an dieser Hoffnung zweifeln.

Sie waren erschöpft. Jeder Stich der Schaufeln, den sie getan, und jede Bütte mit Aushub, die sie vom Brunnen fort getragen hatten, schien erneut an ihren Armen zu ziehen und in ihr Kreuz zu drücken. Ihre Gedanken und ihre Träume hatten nicht zu graben aufgehört, obschon der Schacht bis auf den undurchdringlichen Fels unter der Talsohle getrieben worden war. Ihre Schultern erinnerten sich an den notwendigen Schwung, mit dem sie die Schaufel in die Erde gestoßen hatten, und ihre Füße an die Tritte, mit denen sie tiefer hinein getrieben worden war. Ihre Arme erinnerten sich an das Rütteln, mit dem sie ihr Werkzeug zwischen die Gesteinsbrocken geschoben, und an das Hebeln, mit dem sie die volle Schaufel herausgestemmt hatten. Noch jetzt schienen die Seile, mit denen sie die mit Erde und Steinen gefüllten Bütten aus dem Brunnen gezerrt hatten, in ihre Hände und die Riemen, an denen sie diese getragen hatten, in ihre Schultern zu schneiden. Dass der Eimer weiterhin stets leer heraufgezogen wurde, ließ die Anstrengung fortdauern, als wäre nie ein Erfolg erzielt worden.

Mit jedem Gang talauswärts zu den alten Dörfern, wo sie Wasser holen konnten, erinnerten sich die ermüdeten Beine an jede Sprosse, welche sie hinab in den Brunnen und herauf gestiegen waren, um ihn tiefer auszuschachten. Die so viel leichteren Schritte durch das Tal waren jetzt schwerer zu bewältigen, als sie es jemals in der Vergangenheit gewesen waren. Jeder Schritt war so schwer wie eine Bütte voll Erde. Und all das Wasser, das sie auf diese Weise herbei trugen, glättete nicht mehr ihre trockenen Herzen und kleidete nicht ihre entblößten Gedanken. Kein Wasser, das ihr Brunnen ihnen spenden würde, schien jemals diesen Durst stillen zu können. Während sie um das trockene Loch im Boden standen, welches sie mit ihrer Arbeit geschaffen hatten, und immer wieder den Eimer hinunter ließen, wogen Schaufel und Bütte noch immer schwer in ihren Gedanken.

Noch als das Ziehen, welches die Schaufel in ihre Armen gelegt, das Gewicht, welches die Tiefe des Schachtes an ihre Beine gehängt, und der Druck, welchen die Bütte auf ihren Rücken gebaut hatte, nachgelassen hatte und langsam verschwunden war, füllten sie ihre Becher mit dem Wasser, das sie aus den alten Dörfern herbei getragen hatten. Aber auch jetzt noch waren ihre Gedanken und ihre Träume von demselben ziehenden Gewicht bedrückt. Dass der Eimer immer fort leer heraufgezogen wurde, schien es unmöglich zu machen, die Erinnerung an die Anstrengung jemals abzulegen. Mit jedem Gang in die alten Dörfer, wo sie Wasser holten, wurde die Erinnerung durch die Schwere der Last und das Ausmaß der Mühen wieder herauf beschworen. Und das Wasser aus den alten Dörfern rieselte selbst wie Staub durch ihre Kehlen und sickerte in ihre trockenen Herzen. Würde es jemals möglich sein, nicht nur Wasser zu verwenden, sondern auch selbst Wasser zu schöpfen? Würden sie die Geduld schließlich beiseite legen und erneut zur Schaufel greifen müssen?

Am Ende der Hoffnung füllten sie das Wasser aus den alten Dörfern nicht in ihre Becher. Der Eimer fiel von ihren müden Fingern und rollte ins trockene Gras. Nun würden sie dürsten. Und sie dürsteten drei Tage und drei Nächte und rührten weder ihre Schaufeln noch den Brunnen an, noch gingen sie, um Wasser zu holen. Am Morgen des vierten Tages aber konnten sie das Grundwasser schon riechen, welches sich über Nacht in den Brunnenschacht gehoben hatte, und welches dafür sorgen würde, dass der Eimer aus dem Brunnen nun stets voll herauf gezogen wurde. Sie schöpften ihr eigenes Wasser. Und es stillte ihren Durst besser als jedes andere, das sie jemals getrunken hatten.