Freitag, 21. März 2008

Ein Kapitel im Evangelium nach Judas Iskariot


„Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.“

(Joh. 13, 26)


Als er sah, daß der Bissen ihm gereicht wurde, erschrak Judas. Wie konnte es sein, daß Jesus gerade ihn auserwählte? Gut, er war ein treuer Jünger gewesen. Und er gehörte zu den zwölf engen Vertrauten des Meisters. Aber da waren doch auch noch andere: Petrus beispielsweise. Sicherlich hatte der Meister das jetzt nicht so gemeint. Sicherlich hatte er, Judas, das falsch verstanden. Es war natürlich schon immer klar gewesen, daß einem der zwölf Jünger diese Aufgabe zukäme, aber Judas hätte sich niemals zu träumen gewagt, daß er es sein könnte. Forschend blickte er über die Hand mit dem Brot hinweg in jene Augen, die ihn gerade ansahen. Nichts konnte er dort lesen, das die Ernsthaftigkeit der Aufforderung in Frage stellte. Es schien gewiß: Er war der Auserwählte. Ihm kam die Ehre zu, den entscheidenden, ersten Schritt zu tun. Jetzt war es also offensichtlich. Er war nicht mehr einer der Unwichtigen in der Gruppe. Er, Judas, würde Jesus vor die Hohepriester bringen.


Judas spürte, wie sich seine Brust mit Stolz zu wölben drohte, doch das konnte er gerade noch verhindern. Vielmehr verstand Judas immer noch nicht, wie der Meister diesen Plan vollführen wollte: den Tempel einreißen und durch einen neuen ersetzen. Damit meinte er wohl den religiösen Umsturz. Im Grunde genommen hatte Jesus auch nie etwas Genaueres darüber erzählt. Gut, eines wußte Judas: Jesus sollte an die Hohenpriestern ausgeliefert werden. Das war nun seine Aufgabe. Aber auch das verstand er nicht so ganz. War sich Jesus da wirklich sicher? Dann wäre er schließlich auf sich alleine gestellt. Und die Hohepriester schienen es doch auf das Leben ihres Meisters abgesehen zu haben. War nicht genau das der Grund gewesen, warum sie sich in Ephraim versteckt hatten? Nein, Jesus durfte dabei nichts zustoßen: Er sollte als Gefangener in das Haus der Hohenpriester geführt werden und als König daraus hervorgehen. Und so war es ein großes Glück, die Aufgabe übernehmen zu dürfen; den initialen Schritt in diesem Plan auszuführen. Judas trug da eine große Verantwortung. Und er wollte sie mit Würde tragen. Aber wie sollte Jesus das anstellen, wenn er alleine dort bei den Hohenpriestern war? Wie wollte er die Lage im Griff behalten? Wenn das schief ginge, hätten sie nichts in der Hand, um Jesus zu helfen. Und Judas wäre es gewesen, der ihn dorthin gebracht hatte. Diese Verantwortung war auch zweischneidig. Jesus durfte nichts zustoßen. Das Ganze mußte einfach gut gehen. Trotzdem war das kein sicheres Unterfangen. Und sich dann hinstellen und wirklich den ersten Schritt tun – den ersten, der nicht rückgängig gemacht werden konnte …? Wenn das nur gut ginge.

Naja, Jesus hatte ihnen immer gesagt, was sie tun sollten, natürlich hatte er auch in diesem Fall Recht. So viel konnte wohl gar nicht schief gehen. Oder was konnten sie mit Jesus schon machen? Die Hohenpriester würden den Meister zwar gerne tot sehen, aber sie durften schließlich niemanden hinrichten. Und wenn sie doch einen Weg fänden – mit den Römern? Wenn ihm nun doch etwas zustoßen würde? Was sollte werden? Wie könnten sie das Werk vollenden und die gute Nachricht weiter verbreiten, wenn der Meister nicht mehr bei ihnen wäre? Was war denn, wenn er sterben würde? Das durfte nicht sein. So etwas durfte nicht geschehen. Jesus würde es schaffen. Etwas anderes könnte sich Judas auch niemals verzeihen. Nein! Und nein! Jesus könnte nichts zustoßen. Gott selbst würde über ihn wachen.

Ja, er wird es tun! Die Sicherheit im Blick Jesu gab dem Jünger Mut. Er wird die Tore aufstoßen; er wird es sein, der den Weg ebnet, damit der Plan erfüllt wird. Und er wußte, daß alle voll seligem Dank auf ihn blicken werden. Er wird Jesus an die Hohenpriester ausliefern. Und dieser wird die alten Tempel einreißen und ein neues Reich errichten. Sie alle werden des Heils teilhaftig werden. Ja, und er, Judas, und der Herr werden voranschreiten mit allen Jüngern im Gefolge. Bald wird das himmlische Reich ihnen offen stehen. Oh Gott, in wenigen Tagen – in wenigen Tagen wird Jesus sie zurück ins Paradies führen.

Judas Herz hämmerte, und Tränen trübten schon seinen Blick. Dann griff er nach dem Bissen.

Sonntag, 3. Februar 2008

Schlammgedanken


Die Müdigkeit überlagerte alles. Nicht, dass sie alles unmöglich machte. Aber durch sie wurde der Weg schlammig. Schlammig, so dass man bei jedem Schritt den Fuß oder den Gedanken erst mit Kraft vom Boden losreißen musst, nur damit er beim nächsten Schritt wieder feststeckte. Und dabei blieb bei jedem Schritt ein größerer Batzen Erde an den Stiefeln hängen. Und wenn man alle paar Schritt inne halten, sich bücken und mit den Händen die Stiefel festhalten musste, damit sie nicht stecken blieben, verlor man das Ziel aus den A… Ein Gähnen überkam ihn. Es war einfach so verdammt anstrengend, die Augen offen zu halten. Was hatte er gerade gewollt? Ach so, Stiefel. Na ja, das war auch unwichtig. Er gähnte noch einmal. Hörte das denn gar nicht auf? Seine Augen schwammen in Wasser und brannten. Bestimmt waren sie schon ganz rot vom Abwischen der Tränen.

So, jetzt musste er langsam mal in die Pötte kommen. Er starrte auf das Blatt. Den ersten Satz las er jetzt zum was-weiß-ich-nicht-wievielten Mal. Aber das nächste Gähnen schob sich zwischen ihn und den Sinn als wäre der Text in Suaheli verfasst. Wenn er doch nur irgendetwas in seinen Kopf bekommen würde. Aber diese Müdigkeit quälte ihn den ganzen Tag, dass er nicht mehr wusste, ob er nicht weiter kam, weil er keine Zeit für eine Pause hatte, oder weil der Kopf schon voll war. Noch einmal las er den Satz. Vier Stunden hatte er geschlafen heute Nacht. Gestern waren es fünf gewesen. Es war immer das Gleiche: Wenn er einmal aufwachte, vielleicht weil er aufs Klo musste oder aus einem anderen Grund, begannen die Gedanken, zu rasen, und die Panik ergriff ihn. Wenn er es nicht mehr aushielt, stand er auf und setzte sich wieder an den Schreibtisch, an dem er dann – unter anhaltender Panik – gegen das Einschlafen ankämpfte. Natürlich hatte er auch schon versucht, sich wieder in Bett zu legen. Aber eingeschlafen war er nicht mehr. Es war, als wollte ihn die Panik dann erst recht ergreifen.

Vielleicht wäre es besser, einfach weniger zu machen. So jedenfalls lernte er nichts, obwohl er dauern davor saß. Da könnte er ebenso gut spazieren gehen oder fernsehen. Jetzt probierte er es mal mit dem zweiten Satz. Nein, das hatte keinen Sinn. Es ist ja nicht nur, dass das rotzelangweilig war. Der Autor gefiel sich auch noch darin, alles so deliziös hochgestochen und – ich weiß ja nicht, vielleicht könnte man noch einen Nebensatz einschieben – beschissen auszudrücken. Volle Punktzahl in dummem Gelabere. Er stand auf. Wenigstens hatte das Gähnen aufgehört. Die Müdigkeit allerdings blieb. Die steckte in jedem Knochen. Er streckte sich. Einfach noch mal einen Kaffee kochen. Vielleicht brachte der Text ja auch gar nichts. Dann würde er sich hier ganz umsonst herumquälen, ohne dabei auch nur einen Schritt weiter zu kommen. Gerade so, als würde er doch im Schlamm feststecken.

Junge, man wurde schon ganz schön blöde von so viel Bildung. Und bei dem Kaffee wurde ihm bereits vom Geruch schlecht. Er trank definitiv zu viel davon. Aber ohne ging es nicht. Wobei man zugeben musste, dass es mit eigentlich auch nicht ging, und der Kaffee nur zu Herzrasen führte und dem anhaltenden Gefühl, als wäre seine Pumpe mit Stahlreifen eingebunden. Jeder Herzschlag gegen eine Wand aus Müdigkeit, die durch nichts und wieder nichts zu überwinden war.

Hatte er eigentlich schon irgendetwas gelernt? Was war es noch gewesen, das er gestern gelesen hatte? Nein, er konnte sich nicht erinnern. Vielleicht wenn er versuchte, sein Wissen in ein paar Sätzen zusammen zu fassen, so als ob er eine Frage gestellt bekäme. Was ist die … Aber eigentlich brachte er es noch nicht einmal fertig, zu umreißen, worum es bei dem ganzen Thema ging. Und jetzt fing das Gegähnte schon wieder an. Und der Kaffee bereitete ihm auch Bauchschmerzen. Er schüttete die Tasse aus. Die ganzen letzten Tage hatte er nie weniger als siebzehn oder achtzehn Stunden vor den Büchern gesessen und gelesen. Dennoch sah es nicht so aus, als ob er die ganzen Texte rechtzeitig durchgekommen würde. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch. Erster Satz. Erster Satz. Erster Satz. Natürlich könnte er ihn jetzt einfach so lange noch mal und noch mal lesen, bis er kapierte, was der Autor ihm sagen wollte. Auf die Weise würde er nie alle Texte durchbekommen. Und der Witz dabei war ja auch noch, dass er theoretisch alles, was er da gelesen hatte, anschließend bis ins Detail im Kopf haben sollte, um danach gefragt werden zu können. Völliger Quatsch. Wenn das so weiter ging, konnte er den Prüfer allenfalls angäh… Jetzt reicht es. Jetzt ist es einfach vorbei. Er nahm den ganzen Stapel Kopien und pfefferte ihn in den Papierkorb. Auf Niemehrwiedersehen!

Na ja, so einfach würde es nicht werden. Zu allem Übel war das ja auch noch der eine Text, den sein Prüfer selbst geschrieben hatte. Warum eigentlich musste gerade der so sinnlos unverständlich sein? Natürlich war es möglich, für jeden Sachverhalt eine irrsinnig komplizierte Formulierung zu finden. Aber warum? Die reine Verbalmasturbation, das war es! Er sah es schon kommen: Die Prüfungsfragen sind wahrscheinlich auch im Orakelduktus verklausuliert. Blah blah blah!

Ächzend beugte er sich vor und zog den Artikel wieder aus dem Papierkorb. Mit bleiernen Fingern schob er den Stapel auf seinem Arbeitsplatz gerade. Der neue Wahlspruch lautet: So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Und darum geht der faule Student jetzt wieder ins Bett und holt sich den nötigen Schlaf, damit es wieder möglich ist, ein wenig Stoff in den Kopf zu bekommen.

Als wüsste er nicht, dass auch das nichts brachte: Er steckte einfach fest.