Dienstag, 27. November 2007

Die alte Tapete


Hugo rieb sich noch einmal die schmerzenden Knie und stemmte sich dann doch aus dem Lehnstuhl hoch. Er streckte den Rücken, jedenfalls so weit das noch ging. Einen Buckel zu bekommen, hatte er immer befürchtet, auch darum hatte er so viel Wert darauf gelegt, sich gerade zu halten. Das war ihm auch gelungen. Man durfte sich eben nicht gehen lassen. Bis der verrutschte Pantoffel richtig saß, schlurfte er ein wenig, aber dann drückte er das Kreuz nochmals durch und ging zu dem kleinen, runden Teetischchen hinüber, um sich eine Tasse einzugießen.

Früher wäre er geschritten, aber so viel Bestimmtheit ließen seine Knie nicht mehr zu. Einen Finger der Linken legte er auf den Deckel der Kanne, welcher zu klappern begonnen hatte. Nachdem er die Kanne sachte zurück auf das Stövchen gestellt hatte, goss er einen Spritzer Milch in den Tee, rührte, streifte einen Tropfen vom Löffel und nahm sich schließlich einen Keks von der Etagere.

Er seufzte und nippte an der Tasse. Dabei blickte er nach rechts durchs Fenster auf das weite Tal. Die Sonne stand schon nicht mehr so hoch. Noch vor einer halben Stunde waren seine fünf Enkel um seinen Sessel getobt. Ach ja: Und er hatte ihnen vorgelesen. Wie er sich mit gespitzten Lippen das Schmunzeln verkniffen hatte, als er von sechsbeinigen, gelben Elefanten erzählte hatte, mit denen man in Afrika Jagd auf noch viel Größeres machte. Er liebte es, die Kinder um sich zu haben. Er liebte ihr Kichern und ihr Staunen und die Ernsthaftigkeit, mit welcher sie von ihren Spielen erzählten. Wenn es nach ihm ging, konnten gar nicht genug Kinder um ihn sein. Manchmal brachten seine Enkel auch Spielkameraden mit, die sich verwundert in seinem Haus umsahen. Es war schön mit ihnen. Freilich, manchmal waren sie ihm etwas zu schnell beim Toben oder etwas zu laut. Aber er ließ sich das nicht anmerken. Kinder müssen auch laut sein dürfen.

Sich vom Fenster abwendend trat er auf die Wand zu. Den Henkel der Tasse hielt er dabei vorsichtig mit der Rechten fest, damit sie nicht auf der Untertasse klapperte. Ruhig glitten seine Augen zu dem Portrait hoch. Seine Frau und er hatten ein schönes Leben gehabt. Natürlich war es nicht immer leicht gewesen. Aber in guten wie in schlechten Tagen hatten sie gewusst, dass sie sich hatten – auch wenn sie manchmal getrennt gewesen waren, wegen der Reisen und des Krieges. Er dachte nicht gerne an den Krieg. Besser war es, sich an die guten Dinge zu erinnern. Oder einfach, nach vorne zu schauen. Es war auch weniger Wehmut als Zuneigung, mit welcher er das Portrait seiner Frau ansah. Sie war schon so lange tot, dass er das Gefühl hatte, ihr gemaltes Gesicht besser zu kennen, als das echte, das so unklar geworden war in seiner Erinnerung. Die sanfte Stirn, die weißen Tupfer, die ihren Augen den Glanz verliehen, der Schönheitsfleck, den sie sich immer auf die Wange gesetzt hatte: Er streichelte sie mit seinen Augen, seit er es nicht mehr mit den Händen tun konnte. Ein wenig musste er schmunzeln. Dann nippte er nochmals an seinem Tee und stellte die Tasse auf dem Vertiko ab.

Sein Blick wanderte von der Leinwand über den vergoldeten Stuck des Rahmens auf die Tapete und schweifte über das Muster bis zum Rand der Nische. Der Seidendamast spannte sich über die Kante. Nichts hatte er von seinem Glanz verloren, auch wenn er an der Kante selbst ein wenig abgerieben war. Straff und gleichmäßig lag die Tapete auf der Wand. Nur neben der Türe war sie am Lichtschalter eingerissen: eine Abnutzungserscheinung. Man konnte die einzelnen Fäden sehen, wenn man genau hinsah. Hugo nestelte seine Brille aus der Hemdtasche und setzte sie auf. Ja, hier waren sie deutlich zu sehen, die zarten Fäden des Schussatlases. Sein Zeigefinger berührte den Stoff, der glatt und glänzend war. Er fühle sich ganz anders an, als der viel rauere und matte, aus welchem die Ranken und Blüten geformt waren. Wie froh sie damals gewesen waren, sich eine so schöne Tapete leisten zu können. Seine Augen folgten dem Muster. Die glatten Stellen machten einen viel kleineren Teil aus und hingen auch nicht zusammen, während sich die matten Ranken über die ganze Wand hin fortsetzten. Mit seinem Finger folgte er dem glänzenden Hintergrund um eine Blüte herum. Und noch einmal. Dann ging er langsam die drei Schritte zur Tür und besah sich die Tapete um den Lichtschalter. Schade um den schönen Stoff. Das würde sich nicht reparieren lassen. Vielleicht könnte man es notdürftig richten, wenn man den Bereich um den Lichtschalter mit etwas Unempfindlichem abdeckte. Er hatte so etwas schon einmal gesehen. Sonst wies die Seide noch nicht den typischen Altersschaden auf, dass die Sonne den Stoff fraß bis nur noch die blanken Ketten stehen blieben. Dieser Zustand würde sich nicht immer aufrechterhalten lassen. Auch jetzt lag das Licht darauf. Rotgolden von der untergehenden Sonne überdeckte es das Grün des Damastes.

Er nahm die Brille von der Nase und trat auf das Fenster zu. Die Sonne berührte fast die Hügel. Im Tal legte sich ein blasser Schleier über die Auen. Er ging dort gerne spazieren, dem Fluss folgend. Ja, er liebte es, mit seinen Kindern und seinen Enkeln dort spazieren zu gehen. Auch das würde sich nicht immer aufrechterhalten lassen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete er die Flügeltür und trat in den Garten hinaus.

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