Montag, 22. April 2013

Der Aufbruch


           
Für Mama, 30.04.1943–22.04.2008


Das Zeichen zum Aufbruch kam mit einer halben Stunde Vorwarnung. Dementsprechend hektisch wurde es leider auch. Natürlich traf es uns nicht unvorbereitet, im Gegenteil, aber man kennt das ja: Es gibt eine bestimmte Anzahl von Dingen, die man erst im letzten Moment erledigen kann. Die Zahnbürste einpacken zum Beispiel, die man bis zuletzt noch in Gebrauch hat, den Reiseproviant, der frisch sein muss, und die Reiseapotheke, die man vielleicht gar nicht mehr brauchen wird. Wäre nicht alles so gut geplant gewesen, hätten wir es nicht rechtzeitig geschafft. Ja, lange hatten wir darauf gewartet, Karten für den Zug zu bekommen. Aber auch wenn man so lange darauf gewartet hat, ist es nachher immer ein bisschen anders. Jedenfalls waren die Aufgaben klar verteilt: Ich trug die Koffer zum Wagen, während Papa sich um die Kosmetik und die Medikamente kümmerte, wobei Mama ihn beaufsichtigte. Sie war zu angeschlagen, um selbst etwas tun zu können. Deshalb – und natürlich auch, weil sie das besonders gut konnte – fiel ihr die Aufgabe der Organisation zu. Man könnte sagen, dass wir ohne sie den Aufbruch auch gar nicht geschafft hätten. Ja, und Katrin machte das Vesper fertig: belegte Brote für vier und heißen Tee in Flaschen.

Ihre Hände flogen schnell auf dem Tisch hin und her, verteilten Wurst- und Käsescheiben, legten Brotscheiben aufeinander und verpackten. Sie war bleich und still, gänzlich konzentriert. Ich jedoch lief eilends von einem zum anderen und immer wieder hinaus, rief den anderen Fragen zu und hörte die Antwort meist nicht mehr, weil ich bereits weitergelaufen war. In diesen Fällen musste ich erneut fragen, wenn ich wieder vorbei kam. Papa dagegen trug einzeln die Fläschchen und Tiegel zusammen, um welche Mama ihn bat, stellte sie dann aber, nachdem er sie erst einmal geholt hatte, versehentlich wieder zurück oder auf den Nachttisch, anstatt sie in die Tasche zu tun. Schließlich musste Mama ihn bitten, alles noch einmal auszupacken, um sicher zu gehen, dass nichts vergessen wurde. Die Anstrengung brachte sie dabei vollkommen außer Atem, noch bevor wir überhaupt das Haus verlassen konnten. Papa wischte sich den besorgten Blick vom Gesicht und sagte immer fort im Wechsel „Wir machen das alles so, wie Du willst“, und „jetzt müssen wir aber langsam fertig werden.“ Schließlich, als tatsächlich alles fertig war, stellte sich Katrin neben Mama und streichelte ihr sanft und Mut zusprechend den Rücken, während Papa und ich unsere Rucksäcke aufsetzten. Wir waren bereit.

Immerhin konnten wir die Strecke zum Bahnhof sitzend auf dem Wagen verbringen und mussten nicht zu Fuß gehen. Wir hatten es geschafft, alles Notwendige mitzunehmen, obwohl wir natürlich einiges Altgeliebte, bislang Lebensnotwendige hatten zurücklassen müssen – vor allem natürlich Gewohnheiten und tägliche Rituale, die nun nicht mehr möglich sein würden. Die Dinge, die wir zurückließen, würden wir wohl nicht mehr ersetzten können, jedoch waren wir uns gewahr, dass wir, dort wo wir hingingen, Neues fänden und sicherlich auch ganz Anderes bräuchten. Unser gesamtes Leben würde sich ändern.


Die eigentlichen Schwierigkeiten fingen am Bahnhof an. Hier waren nicht nur wir in Eile und ein wenig hektisch. Hier war viel Geschäftigkeit, teils routiniert, teils solche von einer Hoffnung und Unsicherheit getriebene, wie die unsere. Die Geschäftigkeit war zugleich beruhigend und zermürbend, weil die Zeit für die Verladung all der Dinge, die für unsere Rettung unerlässlich waren, so gering war. Aber es gab keinen anderen Weg, keine Möglichkeit, um die Arbeit zu vereinfachen oder zu verkürzen und Nichts, auf das verzichtet werden konnte. Es war eine schwierige Operation.

Das Verladen selbst war auch gar nicht das Problem, denn die gute Vorbereitung und die handlichen Gepäckstücke machten schnelles Arbeiten leicht. Zunächst mussten sie aus unserem Wagen herausgenommen, dann mit Hilfe kleinerer Gepäckkarren zum Zug gebracht und schließlich ebenso sorgfältig verstaut werden. Das Problem war, dass Mama kaum mehr zu Luft kam. Von Anfang an war klar gewesen, dass sie keine Hilfe mit dem Gepäck würde leisten können. Nun aber ging es ihr, als sie vom Wagen stieg, schon so schlecht, dass Papa sie stützen musste. Einen Arm legte er ihr um die Schulter, mit dem anderen stützte er sie. So jedoch konnte er nun allerdings auch kein Gepäck mehr bei sich tragen. Katrin und ich versuchten, diese Komplikation dadurch wettzumachen, dass wir die einzelnen Stücke schneller vom Wagen auf die Karren umluden und vielleicht auch mehr darauf häuften, als unter anderen Umständen gut zu heißen gewesen wäre. Unter den gegebenen Bedingungen dagegen war dies unerlässlich. Als wir das erste Mal vom Zug zum Wagen zurückgelaufen kamen, war Papa mit Mama schon ein gutes Stück weitergekommen. Das erleichterte uns natürlich, denn wir hatten Schlimmeres befürchtet. Auf dem zweiten Weg zurück jedoch kamen sie uns dann erst viel später entgegen, als wir erwartet hatten. Und beim dritten Mal, das wir zum Wagen zurück liefen, um das letzte Gepäck zu entladen, waren sie kaum mehr weitergekommen. Die Zeit wurde knapp. Katrin entschied, dass sie Mama auf der anderen Seite stützen wollte, während ich – der Stärkere von uns beiden – die beiden Karren alleine zum Zug schieben sollte. Mit meinen Schritten zögerte ich nicht, wenn ich Mama jetzt auch nicht aus den Augen lassen wollte, denn ich wusste, dass es auf jede Minute ankam.

In der Tat waren wir die Letzten auf dem Bahnsteig, als ich das letzte Stück unseres unentbehrlichen Gepäcks verstaut hatte. Mama jedoch war immer noch so weit von der Tür des Zuges entfernt. Schon als ich zu ihnen zurückrannte, sah ich den Schaffner auf die Uhr deuten. Ich rief Katrin zu, dass sie vorauslaufen und die Tür offen halten sollte. Papa und ich zogen Mama schon mehr, als sie zu führen. Ihre Angst hörte man nun nicht mehr nur in ihren hektischen Atemzügen, sondern sah sie auch in ihren Augen: Die Angst, nicht genug Luft zu bekommen, um auch nur den nächsten Schritt gehen zu können, und die Angst, es nicht auf den Zug zu schaffen.

Noch vielleicht zehn Schritte zu gehen. Alle anderen Türen hatte der Schaffner schon geschlossen. Nur die eine wurde von Katrin noch offen gehalten. Aber Mama schüttelte den Kopf, zum Zeichen, dass sie nicht weiter konnte. Die Kraft war aus. Sie konnte einfach nicht mehr. Selbst Papa gelange es nicht mehr, die quälende Sorge aus seinem Gesicht zu vertreiben. Es war Zeit für äußerste Mittel. Ohne zu zögern, beugte ich mich hinunter und ließ Mama, meinen linken Arm um ihren Rücken gelegt, auf meinen rechten sitzen und hob sie so hoch. Schnell ging ich die wenigen verbliebenen Schritte und stellte sie, vom Papa unterstützt auf der Plattform des Zuges wieder auf die Beine, wo Katrin sie in Empfang nahm. Da ertönte auch schon die Pfeife des Schaffners und Papa und ich sprangen auf den schwerfällig anrollenden Zug.


Ich war mir nicht sicher, ob ich mehr aus Angst oder aus Anstrengung nass geschwitzt war. Besorgt und liebevoll blickte ich Mama an. Ihr Atem ging krampfhaft. Uns war klar, dass das sehr viel für sie gewesen war, insbesondere in ihrem Zustand. Nach einem Moment der Ruhe führte ich sie weg von der Plattform ins Abteil. Dort legten wir sie auf eines der Betten, damit sie sich erholen konnte. Schließlich richteten wir ihr alles so bequem wie möglich ein. All unser Handeln drehte sich um sie und ihr Wohlergehen: Polster, Decke, die Stirn abtupfen …

Und dann plötzlich war sie nicht mehr da. Von einem Moment auf den anderen. Es ist schwer zu erklären: Plötzlich war sie nicht mehr da. Einfach so. Sie konnte nirgends hingegangen sein. Nicht nur, dass sie es nicht geschafft hätte: Die einzige Tür des Abteils führte zurück auf die Plattform. Mit unseren Blicken suchten wir sie zwischen uns, so als könnte sie sich hier versteckt haben. Auch auf der Plattform war sie nicht. Wir liefen, rannten die wenigen Schritte bis ans Ende des Wagens, um auf den Bahnsteig zurück zu blicken, an welchem der Zug langsam entlang rollte. Aber auch dort war sie nicht. Sie war einfach weg. Sie war nirgendwo. Einfach weg. Noch weniger als eine Erkenntnis oder ein Begreifen schlich es sich in unseren Blick. Wir sahen es in unseren Augen: Sie war weg. Unser Zug hatte den Bahnhof jetzt verlassen. Im Abteil waren nur wir drei. Aber da war nichts, das wir tun konnten.

„Und ich habe mich nicht einmal von ihr verabschiedet,“ sagte Katrin. Was für ein seltsamer Gedanke. Dabei hätte Mama doch mit uns kommen sollen.

2 Kommentare:

Claus R. Kullak hat gesagt…

Was ich im Juli 2008 schrieb ...

Ganz herzlichen Dank an B., K. und L. für die Unterstützung bei diesem für mich schwierigen Text!

Nicki Schaepen hat gesagt…

Ein wunderbarer, sehr berührender Text. Tausen Dank, lieber Claus!