Der Aufbruch
Für Mama,
30.04.194322.04.2008
Das Zeichen zum Aufbruch kam mit einer halben Stunde
Vorwarnung. Dementsprechend hektisch wurde es leider auch. Natürlich traf es
uns nicht unvorbereitet, im Gegenteil, aber man kennt das ja: Es gibt eine
bestimmte Anzahl von Dingen, die man erst im letzten Moment erledigen kann. Die
Zahnbürste einpacken zum Beispiel, die man bis zuletzt noch in Gebrauch hat,
den Reiseproviant, der frisch sein muss, und die Reiseapotheke, die man
vielleicht gar nicht mehr brauchen wird. Wäre nicht alles so gut geplant
gewesen, hätten wir es nicht rechtzeitig geschafft. Ja, lange hatten wir darauf
gewartet, Karten für den Zug zu bekommen. Aber auch wenn man so lange darauf
gewartet hat, ist es nachher immer ein bisschen anders. Jedenfalls waren die
Aufgaben klar verteilt: Ich trug die Koffer zum Wagen, während Papa sich um die
Kosmetik und die Medikamente kümmerte, wobei Mama ihn beaufsichtigte. Sie war
zu angeschlagen, um selbst etwas tun zu können. Deshalb – und natürlich auch,
weil sie das besonders gut konnte – fiel ihr die Aufgabe der Organisation zu. Man
könnte sagen, dass wir ohne sie den Aufbruch auch gar nicht geschafft hätten.
Ja, und Katrin machte das Vesper fertig: belegte Brote für vier und heißen Tee
in Flaschen.
Ihre Hände flogen schnell auf dem Tisch hin und her,
verteilten Wurst- und Käsescheiben, legten Brotscheiben aufeinander und
verpackten. Sie war bleich und still, gänzlich konzentriert. Ich jedoch lief
eilends von einem zum anderen und immer wieder hinaus, rief den anderen Fragen
zu und hörte die Antwort meist nicht mehr, weil ich bereits weitergelaufen
war. In diesen Fällen musste ich erneut fragen, wenn ich wieder vorbei kam.
Papa dagegen trug einzeln die Fläschchen und Tiegel zusammen, um welche Mama
ihn bat, stellte sie dann aber, nachdem er sie erst einmal geholt hatte,
versehentlich wieder zurück oder auf den Nachttisch, anstatt sie in die Tasche
zu tun. Schließlich musste Mama ihn bitten, alles noch einmal auszupacken, um
sicher zu gehen, dass nichts vergessen wurde. Die Anstrengung brachte sie dabei
vollkommen außer Atem, noch bevor wir überhaupt das Haus verlassen konnten.
Papa wischte sich den besorgten Blick vom Gesicht und sagte immer fort im
Wechsel „Wir machen das alles so, wie Du willst“, und „jetzt müssen wir aber
langsam fertig werden.“ Schließlich, als tatsächlich alles fertig war, stellte
sich Katrin neben Mama und streichelte ihr sanft und Mut zusprechend den
Rücken, während Papa und ich unsere Rucksäcke aufsetzten. Wir waren bereit.
Immerhin konnten wir die Strecke zum Bahnhof sitzend auf dem
Wagen verbringen und mussten nicht zu Fuß gehen. Wir hatten es geschafft, alles
Notwendige mitzunehmen, obwohl wir natürlich einiges Altgeliebte, bislang
Lebensnotwendige hatten zurücklassen müssen – vor allem natürlich Gewohnheiten
und tägliche Rituale, die nun nicht mehr möglich sein würden. Die Dinge, die
wir zurückließen, würden wir wohl nicht mehr ersetzten können, jedoch waren wir
uns gewahr, dass wir, dort wo wir hingingen, Neues fänden und sicherlich auch
ganz Anderes bräuchten. Unser gesamtes Leben würde sich ändern.
Die eigentlichen Schwierigkeiten fingen am Bahnhof an. Hier
waren nicht nur wir in Eile und ein wenig hektisch. Hier war viel
Geschäftigkeit, teils routiniert, teils solche von einer Hoffnung und
Unsicherheit getriebene, wie die unsere. Die Geschäftigkeit war zugleich
beruhigend und zermürbend, weil die Zeit für die Verladung all der Dinge, die
für unsere Rettung unerlässlich waren, so gering war. Aber es gab keinen
anderen Weg, keine Möglichkeit, um die Arbeit zu vereinfachen oder zu verkürzen
und Nichts, auf das verzichtet werden konnte. Es war eine schwierige Operation.
Das Verladen selbst war auch gar nicht das Problem, denn die
gute Vorbereitung und die handlichen Gepäckstücke machten schnelles Arbeiten
leicht. Zunächst mussten sie aus unserem Wagen herausgenommen, dann mit Hilfe
kleinerer Gepäckkarren zum Zug gebracht und schließlich ebenso sorgfältig
verstaut werden. Das Problem war, dass Mama kaum mehr zu Luft kam. Von Anfang
an war klar gewesen, dass sie keine Hilfe mit dem Gepäck würde leisten können.
Nun aber ging es ihr, als sie vom Wagen stieg, schon so schlecht, dass Papa sie
stützen musste. Einen Arm legte er ihr um die Schulter, mit dem anderen stützte
er sie. So jedoch konnte er nun allerdings auch kein Gepäck mehr bei sich
tragen. Katrin und ich versuchten, diese Komplikation dadurch wettzumachen,
dass wir die einzelnen Stücke schneller vom Wagen auf die Karren umluden und
vielleicht auch mehr darauf häuften, als unter anderen Umständen gut zu heißen
gewesen wäre. Unter den gegebenen Bedingungen dagegen war dies unerlässlich. Als
wir das erste Mal vom Zug zum Wagen zurückgelaufen kamen, war Papa mit Mama
schon ein gutes Stück weitergekommen. Das erleichterte uns natürlich, denn wir
hatten Schlimmeres befürchtet. Auf dem zweiten Weg zurück jedoch kamen sie uns
dann erst viel später entgegen, als wir erwartet hatten. Und beim dritten Mal,
das wir zum Wagen zurück liefen, um das letzte Gepäck zu entladen, waren sie
kaum mehr weitergekommen. Die Zeit wurde knapp. Katrin entschied, dass sie Mama
auf der anderen Seite stützen wollte, während ich – der Stärkere von uns beiden
– die beiden Karren alleine zum Zug schieben sollte. Mit meinen Schritten
zögerte ich nicht, wenn ich Mama jetzt auch nicht aus den Augen lassen wollte,
denn ich wusste, dass es auf jede Minute ankam.
In der Tat waren wir die Letzten auf dem Bahnsteig, als ich
das letzte Stück unseres unentbehrlichen Gepäcks verstaut hatte. Mama jedoch
war immer noch so weit von der Tür des Zuges entfernt. Schon als ich zu ihnen
zurückrannte, sah ich den Schaffner auf die Uhr deuten. Ich rief Katrin zu,
dass sie vorauslaufen und die Tür offen halten sollte. Papa und ich zogen Mama schon
mehr, als sie zu führen. Ihre Angst hörte man nun nicht mehr nur in ihren
hektischen Atemzügen, sondern sah sie auch in ihren Augen: Die Angst, nicht
genug Luft zu bekommen, um auch nur den nächsten Schritt gehen zu können, und
die Angst, es nicht auf den Zug zu schaffen.
Noch vielleicht zehn Schritte zu gehen. Alle anderen Türen
hatte der Schaffner schon geschlossen. Nur die eine wurde von Katrin noch offen
gehalten. Aber Mama schüttelte den Kopf, zum Zeichen, dass sie nicht weiter
konnte. Die Kraft war aus. Sie konnte einfach nicht mehr. Selbst Papa gelange
es nicht mehr, die quälende Sorge aus seinem Gesicht zu vertreiben. Es war Zeit
für äußerste Mittel. Ohne zu zögern, beugte ich mich hinunter und ließ Mama,
meinen linken Arm um ihren Rücken gelegt, auf meinen rechten sitzen und hob sie
so hoch. Schnell ging ich die wenigen verbliebenen Schritte und stellte sie,
vom Papa unterstützt auf der Plattform des Zuges wieder auf die Beine, wo
Katrin sie in Empfang nahm. Da ertönte auch schon die Pfeife des Schaffners und
Papa und ich sprangen auf den schwerfällig anrollenden Zug.
Ich war mir nicht sicher, ob ich mehr aus Angst oder aus
Anstrengung nass geschwitzt war. Besorgt und liebevoll blickte ich Mama an. Ihr
Atem ging krampfhaft. Uns war klar, dass das sehr viel für sie gewesen war,
insbesondere in ihrem Zustand. Nach einem Moment der Ruhe führte ich sie weg
von der Plattform ins Abteil. Dort legten wir sie auf eines der Betten, damit
sie sich erholen konnte. Schließlich richteten wir ihr alles so bequem wie
möglich ein. All unser Handeln drehte sich um sie und ihr Wohlergehen: Polster,
Decke, die Stirn abtupfen …
Und dann plötzlich war sie nicht mehr da. Von einem Moment
auf den anderen. Es ist schwer zu erklären: Plötzlich war sie nicht mehr da.
Einfach so. Sie konnte nirgends hingegangen sein. Nicht nur, dass sie es nicht
geschafft hätte: Die einzige Tür des Abteils führte zurück auf die Plattform.
Mit unseren Blicken suchten wir sie zwischen uns, so als könnte sie sich hier
versteckt haben. Auch auf der Plattform war sie nicht. Wir liefen, rannten die
wenigen Schritte bis ans Ende des Wagens, um auf den Bahnsteig zurück zu
blicken, an welchem der Zug langsam entlang rollte. Aber auch dort war sie
nicht. Sie war einfach weg. Sie war nirgendwo. Einfach weg. Noch weniger als
eine Erkenntnis oder ein Begreifen schlich es sich in unseren Blick. Wir sahen
es in unseren Augen: Sie war weg. Unser Zug hatte den Bahnhof jetzt verlassen. Im
Abteil waren nur wir drei. Aber da war nichts, das wir tun konnten.
„Und ich habe mich nicht einmal von ihr verabschiedet,“
sagte Katrin. Was für ein seltsamer Gedanke. Dabei hätte Mama doch mit uns
kommen sollen.
2 Kommentare:
Was ich im Juli 2008 schrieb ...
Ganz herzlichen Dank an B., K. und L. für die Unterstützung bei diesem für mich schwierigen Text!
Ein wunderbarer, sehr berührender Text. Tausen Dank, lieber Claus!
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